Shaws >>Heilige Johanna<<(Saint Joan), 1992 am Berliner Renaissance-Theater aufgeführt. Seine Johanna ist eine emanzipierte Kämpferin: Bei den Intellektuellen der zwanziger Jahre kam das gut an. Von den konservativen wurde es jedoch heftig kritisiert.
Schon die wahre Geschichte Johannas ist eine starke Story - wie geschaffen für einen Heldenroman. Für die großen Dichter ist das noch zuwenig. Sie sind fasziniert davon, dass die Heldin eine Jungfrau ist - und sie machen daraus ihre persönliche Botschaft, die mit der historischen Wahrheit nicht viel zu tun hat.
Die Geschichte der Jungfrau von Orléans hat im Laufe der Jahrhunderte ein Heer von Schriftstellern inspiriert. Über 10 000 Bücher und wissenschaftliche Arbeiten, in denen Johanna die Hauptrolle spielt, sind bis heute dokumentiert. Und natürlich haben sich auch die großen Dramaturgen bemüht, das Leben und Sterben dieser ungewöhnlichen Frau, auf die Bühne zu bringen: William Shakespeare, Bernard Shaw, Friedrich Schiller, Bertold Brecht und Jean Anouilh, um nur die wichtigsten zu nennen.
Doch Vorsicht ist geboten. Den Autoren ging es meist nicht so sehr um die Darstellung der historischen Wahrheit, sondern um ihre Interpretation. Je nach Zeitgeist und politischer beziehungsweise religiöser Überzeugung des Autors tritt Jeanne als Heilige oder Hure, als unterwürfige Gottesdienerin oder emanzipierte Revolutionärin auf die Bühne.
William Shakespeare beschreibt Jeanne in seinem Drama >>Heinrich VI.<< als durchtriebene Magierin, der man nicht so recht über den Weg trauen kann. Im ersten Aufzug wird sie dem Thronfolger Karl vorgestellt mit den Worten: >>Sie hat der tiefen Prophezeiung Geist, Roms alten neun Sybillen überlegen.<< Die Männer begegnen ihr mit einer Mischung aus Faszination und Angst: Karl, der sehr beeindruckt ist von ihrer Geschicklichkeit beim Fechten, nennt sie eine >>Amazone<<; für den Engländer Lord Talbot ist sie >>Teufel oder Teufelsmutter<<, beziehungsweise eine >>Hexe<<. Dass sich die Männer in Shakespeares Drama vor Jeanne fürchten, hat einen guten Grund: Sie hat magische Kräfte. Den wehrlosen Thronfolger Karl zieht sie in ihren Bann und geht nachts mit ihm Arm in Arm durch die Dunkelheit - >>so wie ein Paar verliebter Turteltauben<<. Den Herzog von Burgund >>behext<< sie mit den Worten, so dass dieser die Engländer im Stich lässt und zu den Franzosen überläuft. Ihre Unbesiegbarkeit ist das Ergebnis schwarzer Magie: >>Nun helft, ihr Zaubersprüche und Amulette, und ihr, die ihr mich warnt, erlesene Geister, und Zeichen mir von künftigen Dingen gebt.<< Dass Jeanne wirklich eine Zauberin ist, beweist ihre Gefangennahme. Da lässt Shakespeare sie sagen: >>Zu schwach sind meine alten Zaubereien.<<
Dass sie nicht nur in Verbindung mit dunklen Mächten steht, sondern auch noch einen schlechten Charakter hat, erfährt der Zuschauer am Ende des fünften Aufzugs. Kurz vor der Verbrennung verleugnet sie den eigenen Vater: >>Elender Bettler! Abgelebter Knecht!
Von edlem Blute bin ich abgestammt! Du bist mein Vater und mein Blutsfreund nicht!<< Am Ende behauptet Jeanne sogar noch, schwanger zu sein, um nicht verbrannt zu werden. Und sie weiß nicht einmal, ob Karl, der Herzog von Alencon oder der König von Neapel der Vater ist.
Alles in allen nimmt es Shakespeare mit der historischen Wahrheit nicht sehr genau: Jeanne hat NIE behauptet, Zauberkunststücke zu beherrschen; sie war NIE die Geliebte Karls; sie hat ihren Vater NIE verleugnet; und von der Schwangerschaft war im Prozess auch nie die Rede. (Anm. Jenny-Jinya; Es soll tatsächlich behauptet worden sein, dass Jeanne eine Schwangerschaft vorgetäuscht hat, sie wurde auch daraufhin untersucht, wobei herauskam, dass nichts dran sei.) Da mag man sich fragen, was Shakespeare dazu motiviert hat, so zu schummeln.
Sicher ist, der Dichter traf mit seinem Drama >>Heinrich VI.<< den Geschmack seiner - überwiegend nationalistisch eingestellten - Zeitgenossen: Shakespeare, 1564 in Stratford-on-Avon geboren, lebte in der Zeit der europäischen Glaubensspaltung: Die anglikanischen Engländer der betrachteten die hauptsächlich katholischen Franzosen als Feinde. Da passte eine durchtriebene und charakterschwache französische Nationalheldin gut ins Bild.
Es spricht einiges dafür, dass Shakespeare bewusst die britisch-nationale Sichtweise übernahm. Der Dichter wollte Karriere machen: Er stammte aus bürgerlichen Verhältnissen, sein Vater war ein Kaufmann, der 1576 in eine finanzielle Krise geraten war. William wurde zunächst Lehrer, fühlte sich aber zu Höherem berufen. Mit 32 Jahren gelang ihm der Durchbruch: Mit Stücken, die den Zeitgeist trafen, wurde er in London zum gefeierten Bühnenautor.
Auch Friedrich Schiller nimmt es mit der Wahrheit nicht so genau. In seinem Drama >>Die Jungfrau von Orleans<< macht er Johanna zu einer klassischen Heldin: tugendhaft, schön und patriotisch. Eine kämpferische Jeanne d'Arc in Männerkleidung, ohne Sex-Appeal, kann oder will sich Schiller nicht vorstellen: Seine Johanna tritt in Frauenkleidern auf, sie trägt nur Helm und Brustharnisch. Trotzdem ist sie die Aura der Jungfräulichkeit, die sie umgibt, unverwundbar. Der Jungfrauen-Status Johannas spielt in Schillers Drama eine Schlüsselrolle: Die heilige Maria - die ihr statt dem Erzengel Michael erscheint - sagt zu ihr: >>Eine reine Jungfrau vollbringt jedwedes Herrliche auf Erden, wenn sie der irdischen Liebe widersteht.<< Solange Johanna ihre Reinheit bewahrt, hat sie magische Kräfte: Der Thronfolger Karl macht sie ohne zu zögern zur Oberbefehlshaberin; beim Kampf um Orléans erstarren die Engländer vor Schrecken bei ihrem Anblick und können sich nicht mehr verteidigen. Eine tragische Wendung nimmt Johannas Schicksal, als sie dem englischen Anführer Lionel in die Augen sieht und einen Anflug von Verliebtheit empfindet. Durch diese Hingabe durch ein menschliches Gefühl verliert sie ihre Kraft: >>Was hab ich getan! Gebrochen hab ich mein Gelübde!<<
Nun scheint sich alles gegen sie zu wenden: Bei der Krönung in Reims wird sie von ihren Vater verraten: Thilbaut d'Arc erklärt öffentlich, seine Tochter habe einen Pakt mit dem Teufel geschlossen. Karl verbannt Johanna aus seinem Reich und lässt sie später sogar einsperren. Am Ende des vierten Aufzugs gelingt ihr die Flucht: Mit Gottes Hilfe sprengt sie ihre Ketten, stürzt in den Kampf und stirbt ehrenvoll auf dem Schlachtfeld. In der Schlussszene sinkt sie tödlich getroffen auf ihre eigene Fahne, und auf einen Wink des Königs werden alle Fahnen sanft auf ihr niedergelassen. Von Scheiterhaufen und Hexenverbrennung ist bei Schiller keine Rede. Der Dichter, der 1759 in Marbach am Neckar geboren wurde, will in seiner >>Romantischen Tragödie<< nicht die wahre Geschichte der Jeanne d'arc schildern, sondern einen klassischen Konflikt darstellen; Das Schicksal stellt
die Heldin vor die Entscheidung zwischen Pflicht - also die Bewahrung ihrer Jungfräulichkeit - und Neigung - in diesem Fall die Liebe. Nach Schillers Vorstellung muss die Neigung überwunden werden, damit die Würde des Menschen hervortreten kann: Johanna wird durch Verbannung und Gefangenschaft geläutert und darf ehrenvoll auf dem Schlachtfeld sterben.
Warum ist für Schiller die Enthaltsamkeit so wichtig? Man kann darüber nur spekulieren:
Möglich ist, dass der Dichter, als er die >>Jungfrau von Orleans<< schrieb, von persönlichen Erfahrungen beeinflusst wurde. Es ist überliefert, dass er zu vielen Frauen eine stürmische Zuneigung empfand. Wegen seiner unsicheren finanziellen Verhältnisse musste er aber darauf verzichten, ihnen den Hof zu machen. 1787 schrieb er an einen Freund; >>Ich werde ewig isoliert bleiben in der Welt, ich werde von allen Glückseligkeiten naschen, ohne zu genießen.<<
Den Engländer Bernard Shaw hat die Geschichte der Jungfrau inspiriert, >>Die heilige Johanna - eine dramatische Chronik in sechs Szenen und einem Epilog<< zu schreiben. In den ersten sechs Szenen schildert der Autor, der 1856 in Dublin geboren wurde, die Geschichte Johannas von ihrem Besuch beim Kommandanten von Vaucouleurs bis zur Hinrichtung. Shaw hält sich dabei ziemlich genau an die historischen Fakten, kürzt die Geschichte allerdings ab: So wird die Jungfrau am Hof des Dauphin nicht lange geprüft, sondern direkt zur Oberbefehlshaberin ernannt und zieht schnurstracks nach Orleans. Auch mit dem Prozess und der Hinrichtung hält sich der Autor nicht lange auf: Seine Johanna erkennt schnell, dass der Widerruf nicht zu ihrer Befreiung führt, und sie zerreist das Blatt mit ihrer Unterschrift.
Shaws Johanna ist eine starke Frau: selbstbewusst, schlagfertig, kräftig und mindestens genauso erfolgreich wie ihre Mitstreiter. Dass sie hier die Rolle der Emanze spielt, ist kein Zufall: Bernard Shaw trat öffentlich für den Abbau sozialer Unterschiede und die Emanzipation der Frau ein. Fünf Jahre nach Abschluss des Dramas >>Saint Joan<< veröffentlicht er den >>Wegweiser für die intelligente Frau zum Sozialismus und Kapitalismus<<. Die Progressive Sichtweise Shaws war im England der 20er Jahre umstritten. Was seine konservativen Gegner dachten, spricht der Kaplan in der vierten Szene aus: >>Mir sagt mein gesunder Menschenverstand, dass diese Person ein Rebell ist, und das genügt mir. Sie rebelliert gegen die Kirche, denn sie maßt sich die göttliche Autorität des Papstes an. Sie muss brennen, sonst verseucht sie noch die ganze Gemeinde.<<
Shaws Johanna ist eine Revolutionärin, und deshalb muss sie sterben: Am Ende der sechsten Szene verbrennt sie auf dem Scheiterhaufen, allerdings nicht ganz: Ihr Herz wird von den Flammen nicht erfasst, es ist unsterblich.
Und so kommt es, dass sie 25 Jahre nach ihrem Tod noch einmal auftreten kann: Der letzte Teil des Dramas, der Epilog, spielt im Jahre 1456 im Schlafzimmer Karls VII. Im Traum sieht der König den Bruder Martin Ladvenu, der ihm sagt, das Urteil gegen die Jungfrau sei aufgehoben worden. Dann erscheinen auch Jeanne und ein Beauftragter des Papstes aus dem Jahr 1920, der erklärt, Jeanne sei heilig gesprochen worden. Damit wären alle Vorraussetzungen für ein Happy End gegeben, aber die Geschichte nimmt eine erstaunliche Wende: Jeanne will auf die Erde zurückkehren, doch alle Anwesenden warnen: Sie werde nur wieder verbrannt. >>Wir sind noch nicht genug für dich<<, erklärt ihr einstiger Mitstreiter Dunois. Der Epilog endet mit dem verzweifelten Ausruf der unsterblichen Jungfrau: >>O Gott, der Du diese wundervolle Erde geschaffen hast: Wie lange soll es denn noch dauern, bis sie bereit ist, Deine Heiligen zu empfangen? Wie Lange, o Gott, wie lange?<<.
Bertolt Brecht hat sich eingehend mit der Geschichte der Jungfrau von Orléans beschäftigt. Er läßt Sie - allerdings in unterschiedlichen Missionen - in mehreren seiner Bühnenstücke auftreten: Eine weitgehend authentische Jeanne d'Arc spielt die Hauptrolle in dem Stück >>Der Prozess der Jeanne d'Arc zu Rouen 1431<<. (Grundlage für das Stück, das Brecht für das Berliner Ensemble schrieb, ist ein Hörspiel von Anna Seghers.) Brecht schildert hier minutiös das Verhör, dem Jeanne sich unterziehen musste. Die Aussagen, die sie über ihre Stimmen und ihren Auftrag macht, sind wortwörtlich die, die im bischöflichen Protokoll niedergeschrieben wurden. Zwischen den historisch belegten Dialogen lässt Brecht das Volk zu Wort kommen: Auf dem Wochenmarkt von Rouen wird zum Beispiel Jeannes Jungfräulichkeit diskutiert : >>Es heißt Lady Bedford hat sich persönlich überzeugt, dass sie virgo ist. Es heißt , dass ihr Gemahl, unser guter Herzog von Bedford, durch eine eigens angelegte Öffnung im Fußboden sich dabei auch überzeugte.<< In einer anderen Szene unterhält sich eine Fischfrau mit einer Bäuerin. Fischfrau: >>Ein Jammer, dass sie eine Hexe ist, wo sie doch gegen die Engländer ist.<< Bäuerin : >>Ihre Stimmen kommen vom Teufel!<< Fischfrau: >>Bah, ihre Stimmen sagen, scheint's nicht anders, als was alle Leute sagen. Nämlich dass die Engländer aus Frankreich raus sollen.<<
Diese Unterhaltungen wirken zunächst wie zufällige Auflockerungen, doch der erste Eindruck täuscht: Die >>Stimme des Volkes<< spielt in Brechts Theaterstück eine entscheidende Rolle - sie ist die eigentliche Erklärung für den Mythos der Jeanne d'Arc: Die Stimmen, die die Jungfrau hörte, waren nicht die der Heiligen, sondern die des Volkes - zumindest meinen das die Bauern, die sich in der letzten Szene unterhalten: >>Das war so: Zuerst lief sie dem Volk voraus auf den Feind zu, so wurde sie gefangen. Und als sie in ihren Turm in Rouen saß, hörte sie von uns nichts mehr und wurde schwach wie du und ich. Sie hat sogar widerrufen.
Aber als sie widerrief, haben sich die einfachen Leute in Rouen so über sie geärgert, dass sie den Engländern am Hafen die Köpfe blutig schlugen. Sie erfuhr es, keiner weiß wie, und gewann so ihre Tapferkeit zurück. Sie erkannte, dass das Tribunal kein schlechteres Schlachtfeld ist als die Laufgräben von Orleans.Und so machte sie aus ihrer größten Niederlage unseren größten Sieg. Als ihr Mund verstummte, wurde ihre Stimme gehört.<<
Durch diese Schlussszene gibt der Sozialist Brecht 1898 in Augsburg geboren und 1956 in Ostberlin gestorben, der Mission Jeanne d'Arcs eine neue Bedeutung: Frankreich verdankt seine Befreiung nicht Gott, sondern dem Volk.
In dem berühmtesten seiner Jeanne d'Arc-Stücke, der >>Heiligen Johanna der Schlachthöfe>>, entfernt sich Brecht ziemlich weit von der wahren Geschichte der Jungfrau. Johanna Dark lebt im Arbeitermilieu Chicagos. Sie kämpft nicht gegen englische Soldaten, sondern gegen Aussperrungen, Ausbeutung und Hunger - kurz, gegen ein kapitalistisches, unmenschliches Wirtschaftssystem. Trotz dieser Entfremdung gibt es in dem Theaterstück das Brecht 1929 veröffentlichte, viele Parallelen zwischen der historischen und der modernen Johanna: Beide glauben an die Gerechtigkeit Gottes. Beide haben Visionen. Jeanne d'Arc hörte Stimmen, Johanna Dark träumt, sie werde an der Spitze einer Armee von Armen durch Chicago marschieren: >>Vor's Morgen wird, werden wir von diesen Höfen aufbrechen und die Stadt Chicago erreichen und bei Morgengrauen, zeigend unseres Elends ganzen Umfang.<<
Wenn es darum geht ihr Ziel zu erreichen, schreckt die Schlachthofjohanna - genau wie ihre
historische Patin - nicht vor Gewalt zurück: >>Ich hör euch sagen: Das wird niemals anders. Das Unrecht dieser Welt wird stets bestehn. Wir aber sagen euch: Man muss marschieren und kümmern sich um nichts und helfen gehn und auffahren Tanks und Kanonen und Flugzeuge müssen her und Kriegsschiffe über das Meer, um den Armen einen Teller Suppe zu erobern.<<
Genau wie Jeanne d'Arc bittet Johanna Dark den König um Hilfe: Der >>Fleischkönig<< unterstützt ihren Kampf zunächst auch, wendet sich aber später von ihr ab. Die frommen >>Schwarzen Strohhüte<<, die anfangs hinter ihr standen, lassen sie ebenfalls im Stich. Und so kommt es, dass auch das Schicksal der heiligen Johanna der Schlachthöfe tragisch endet: Sie stirbt im Alter von 25 Jahren an Lungenentzündung. Aber damit ist die Geschichte nicht zu Ende.
Die Johanna Dark wird auch noch heilig gesprochen, und zwar ausgerechnet von einem Fleischmarkler: >>Wir wollen sie als eine Heilige aufziehen und ihr keine Achtung versagen. Im Gegenteil soll gerade, dass sie bei uns gezeigt wird, dafür zum Beweis dienen, dass Menschlichkeit bei uns einen hohen Stellenwert einnimmt.<< Auch im Zynismus dieser Heiligsprechung gibt es wieder eine Parallele zwischen der historischen und der modernen Johanna: Die Kirche, die Jeanne als Hexe verbrennen lies, rühmt jetzt ihre Taten; die Kapitalistin, die Johanna in den Tod treiben, senken in der letzten Szene, mit Tränen der Rührung in den Augen, Fahnen über sie - die Ähnlichkeit mit der Schlussszene des Schiller-Dramas ist sicher kein Zufall...
Für den Franzosen Jean Anouilh ist Jeanne d'Arc das Symbol für die Freiheit Frankreichs. >>Jeanne d'Arc oder die Lerche<< ist daher ein ernstes und patriotisches Theaterstück - vor allem, wenn man bedenkt, dass Anouilh es 1953, kurz nach dem zweiten Weltkrieg veröffentlichte. Dennoch nannte es der Autor selbst eine Komödie. Sicher ist, >>Jeanne oder die Lerche>> steckt voll Ironie und schwarzem Humor.
Im ersten Aufzug will Warwick Jeanne sofort den Prozess machen, aber da beschließen die anderen Anwesenden, man müsse Jeanne die Gelegenheit geben, alles zu erzählen. Und so muss ihr ganzes Leben noch einmal durchgespielt werden - von der Kindheit in Domrémy bis zum Scheiterhaufen. Die Flammen lodern schon, da stürzt Baudricourt auf die Bühne und stoppt die Hinrichtung. Er erklärt man habe vergessen die Krönung zu spielen. Das Versäumnis wird nachgeholt, und so endet das Theaterstück mit einem Happy End: >>Das wahre Ende der Geschichte unserer Jeanne, das wahre Ende, das jedoch nie zu Ende geht, das einzig gültige Ende, wie man es in Bilderbüchern immer wieder malen und immer noch erzählen wird, wenn man längst unsere Namen vergessen hat, das ist nicht das kleine gequälte Mädchen von Rouen - das ist die Lerche hoch im Himmel, das ist Jeanne zu Reims in ihrem Glanz und Ruhm.<<
Die Jeanne d'Arc in Anoulihs Stück ist eine moderne, aufgeklärte und emanzipierte Frau mit gesundem Menschenverstand, die im Grunde selbst nicht an Wunder glaubt. Beaudricourt und dem Thronfolger Charles erklärt sie, dass es völlig gleichgültig sei, ob Gott sie gesandt habe oder nicht: >>Du sagst dir: Sie ist irgendeine hergelaufene Kuhhirtin, sonst nichts. Aber angenommen, sie hat wirklich den lieben Gott an ihrer Seite, dann kann sie nichts mehr aufhalten. Und ob Gott mit ihr ist oder nicht, das bleibt sich gleich... und warum sollte sie nicht meine Soldaten überzeugen...Was brauchen sie schließlich, unsere Soldaten? Sie brauchen eine Siegesstandarte, eine Persönlichkeit, die ihnen Mut macht, und beweist, dass Gott sie nicht verlassen hat.<<
Auch das große Geheimnis, das Jeanne dem Thronfolger Jeanne anvertraut, verliert bei Anouilh den mystischen Beigeschmack:
Die Hauptdarstellerin erklärt ihm lediglich, wie man Ängste erfolgreich überwindet: >>Ich tat einfach so, als hätte ich überhaupt keine Angst. Das ist das ganze Geheimnis, Charles.<< Dass Jeanne Jungfrau ist, spielt in dem Bühnenstück >>Jeanne oder die Lerche<< keine Zentrale Rolle.
Nur an einer Stelle kommen die Darsteller auf das Thema zu sprechen: Der Engländer Graf Warwick erklärt, was das Geheimnis der Jungfrauen ist: >> Jungfrau sein ist ein begnadeter und wunderbarer Zustand. Wir Männer lieben das. Doch leider - sobald wir einer begegnen, wollen wir sie eiligst in eine Frau verwandeln - und dann sind wir enttäuscht, wenn das Wunder jäh zu Ende ist. << Man kann davon ausgehen, dass Jean Anoulih, der 1910 in Bordeaux geboren wurde und bereits mit 24 Jahren ein bekannter Bühnenautor war, wusste, wovon sein Warwick sprach...